Was ist eigentlich so unwiderstehlich an Märchen?
Vielleicht, dass man aus ihnen nie herauswächst, dass sie nicht „uncool“ werden, sondern in düsteren, hintersinnigen Variationen für Erwachsene ebenso erzählt werden können wie in knallbunten, abenteuerlichen für Kinder. Und vielleicht ebenso, dass man nie zu klein für sie war, dass man sie in ihrem ganzen Zauber, ihren Rätseln, ihrer Grausamkeit lesen, hören oder anschauen durfte, ohne auf jene mysteriöse, in weltenweit entfernter Zukunft gelegene Zeit verwiesen zu werden, „wenn du groß genug bist.“
Michael Endes Geschichte von Momo, dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte, ist ein Märchenroman. Ohne Altersangabe, für jeden Augenblick in unserem Leben zugelassen. Vermutlich deshalb wird er schon seit fünfundvierzig Jahren gelesen – von mittlerweile mehr als sieben Millionen Menschen in aller Welt.
Für Momo spielt es keine Rolle, wie alt jemand ist, welchen Beruf er ausübt, ob er in der Schule Klassenbester ist oder ein Vermögen auf der Bank liegen hat. In der verfallenen Theaterruine vor der Stadt, in der sie sich häuslich eingerichtet hat, ist ihr jeder willkommen – er braucht weder seinen Reisepass noch seine Steuererklärung vorzulegen, er braucht kein Eintrittsgeld zu entrichten und nichts mitzubringen – nur eine kleine Handvoll unbezahlbarer Zeit.
Dass Momo viele Freunde hat, ist somit nicht verwunderlich.
Eine Freundin, die sich einfach nur freut, wenn man vorbeikommt, egal, ob man sich die Haare gekämmt hat, ob man gut gelaunt ist oder jemanden zum Ausweinen braucht, ob man eine Stunde oder die nächsten zwei Wochen bleiben will, wer hätte die nicht gern?
Momo aber kann noch etwas anderes, das gute Freunde auszeichnet – etwas, von dem unzählige Menschen glauben, es sei gar nicht der Rede wert, obwohl sie selbst kläglich daran scheitern.
Momo kann zuhören.
Und zwar so, dass jeder, der ihr etwas erzählt, spürt, wie in ihm ein herrliches Gefühl wächst – das Gefühl, ein ganz besonderer und wichtiger Mensch zu sein.
Solche ganz besonderen und wichtigen Menschen sind wir alle. Und wenn wir alle uns auf die steinernen Stufen des alten Theaters setzen und eine kleine Weile warten, setzt Momo sich zu uns und die Geschichte beginnt.